
Aber geschlechtersensible Medizin endet nicht beim Herz. Ein weniger bekannter Bereich mit großen Unterschieden ist die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS). Als typische Symptome gelten neben der Aufmerksamkeitsstörung auch eine starke Impulsivität und hyperaktives Verhalten, entsprechend sind auch die ADHS-Fragebögen angelegt. Allerdings hat sich auch hier gezeigt, dass diese Symptome eher bei Jungen bzw. Männern auftreten, während Mädchen und Frauen öfter eine stillere Variante zeigen: sie wirken zurückgezogen oder unaufmerksam und zeigen deutlich seltener aggressive Verhaltensweisen. Diese Symptome werden häufig übersehen, dies führt dazu, dass bei ihnen ein ADHS oft erst spät oder gar nicht diagnostiziert wird. Das kann sich auf die gesamte Entwicklung, den Schul-und Ausbildungsweg bis ins berufliche Leben auswirken.
Auch bei neurodegenerativen Erkrankungen wie Parkinson zeigt sich: Männer und Frauen erkranken unterschiedlich. Bei Frauen verläuft die Erkrankung oft langsamer als bei Männern, mit anderen Symptomen und Reaktionen auf Medikamente, der Rückgang der Lebensqualität ist oft ausgeprägter. Bei Frauen tritt häufiger ein Tremor auf, zudem leider sie unter anderem öfter unter Stimmungs- und Schlafstörungen, ebenso unter Schmerzen, gastrointestinalen und urogenitalen Beschwerden. Bei der Therapie haben sie ein höheres Risiko, unter langfristiger Levodopa-Behandlung sogenannte Dyskinesien, also Bewegungsstörungen, zu entwickeln. Umgekehrt tritt die sogenannte Rigidität, also Muskelsteife, seltener auf als bei Männern.
Diese Unterschiede werden jedoch nach wie vor noch zu selten beachtet. So wurden bei der Entwicklung einer Smartphone-App zur Früherkennung von Parkinson die Geschlechterunterschiede nicht ausreichend berücksichtigt und stattdessen die vermeintlich typischen männlichen Symptome als Grundlage verwendet. Die Aussagekraft und Nutzbarkeit ist damit für Frauen geringer, das Risiko für Fehldiagnosen höher.
Die Nicht-Beachtung von geschlechtsbezogenen Unterschieden – ob biologisch oder soziokulturell – hat Folgen. Für uns Spitzenfrauen Gesundheit ist daher klar: Eine Medizin, die das Geschlecht ignoriert, ist unvollständig. Geschlechtersensible Medizin sorgt für gerechtere Gesundheitsversorgung – für alle Geschlechter.
Autorin Brigitte Strahwald